Wissen vom Unwissen?

Aus die gegenwart begreifen
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Nun aber wendet sich von Hayek dem eigentlichen Problem zu, nämlich dem Widerspruch, der darin liegt, dass man um die Unwissenheit weiß. „Es muss aber zugegeben werden, dass unsere Unwissenheit ein schwer zu diskutierender Gegenstand ist. Es mag definitionsgemäß unmöglich scheinen, darüber sinnvoll zu sprechen. Wir können sicherlich nicht etwas vernünftig diskutieren, wovon wir nichts wissen. Wir müssen zumindest in der Lage sein, die Fragen zu formulieren, auch wenn wir die Antwort nicht wissen. Das setzt einige echte Kenntnisse der Art von Welt voraus, über die wir sprechen.“

Wir sind nun bei dem quantitativen Unterschied: Es gibt „echte Kenntnisse“, aber sie bleiben unvollkommen, weil wir vieles nicht wissen. Philosophen würden nun so verfahren, wie etwa Kant: Sie würden zwischen einem verständigen Wissen, das echte Kenntnisse im Sinne von Hayeks hervorbringt, bei Kant empirisches Wissen mittels des Verstandes genannt, und dem Wissen unterscheiden, welches um die Grenzen der Anwendbarkeit des Verstandes auf die Welt weiß, also der Vernunft. Man würde also als Philosoph um die Grenzen des verständigen Wissens – und ggf. der entsprechenden Rationalität – wissen und eine entsprechende Kritik üben, wie Kant das gemacht hat. Wie stellt sich nun die Lösung des Problems bei Hayek dar? „Wenn wir verstehen wollen, wie die Gesellschaft funktioniert, müssen wir versuchen, die allgemeine Natur und die Reichweite unserer Unwissenheit von ihr festzulegen.“ Von Hayek befasst sich also nicht mit den Grenzen unseres Wissens, sondern unmittelbar mit unserer Unwissenheit. Diese Unwissenheit hat eine qualitative „Natur“ und eine quantitative „Reichweite“. Diese beiden Aspekte gilt es, „festzulegen“. Es wird also nicht von einer Veränderlichkeit des Unwissens ausgegangen, sondern es wird – von wem? – die qualitative und quantitative Bestimmtheit unserer Unwissenheit „festgelegt“.

Da wir über unsere Unwissenheit definitionsgemäß nichts wissen können, kann diese „Festlegung“ nicht auf Wissen beruhen. Es muss einen anderen Zugang geben. Wir stellen also fest: Erstens ist die Unwissenheit qualitativ und quantitativ festgelegt, d.h. unveränderlich. Zweitens wird die Festlegung nicht im Wissen vorgenommen. Dann fragt man sich: Wie dann? Von Hayek greift im nächsten Satz zu einer Metapher, die in mehrfacher Hinsicht interessant ist. „Obwohl wir im Dunkeln nicht sehen können, müssen wir imstande sein, die Grenzen der dunklen Gebiete abzutasten.“ Von Hayek wechselt mit diesem Bild die Ebene: Es geht nun nicht mehr um Wissen und Unwissenheit, sondern um Sehen und Tasten als verschiedene menschliche Sinne, die als Bild für das Wissen und die Unwissenheit herhalten müssen. (Man denkt hier vielleicht an den Ausspruch von Karl Valentin: „Ich hör‘ auch was riechen.“) Indem er dieses Bild wählt, macht er von einer Assoziation Gebrauch, die aus dem Materialismus stammt, wiederum konkret aus der Abbild- oder Widerspiegelungstheorie. Er benutzt das Sehen für das Wissen, und setzt es dem „Dunklen“ entgegen, in dem man nichts sieht. Der Voraussetzung nach aber gibt es dort etwas. Nur man kann es nicht sehen, weil kein Licht da ist. Deswegen muss man es „abtasten“. Denn das, was da ist, verfügt im Bild über ertastbare Widerständigkeit, ist also stofflich. Wie das Licht für das Wissen als das Ideelle steht, so steht das Abtastbare für das Stoffliche als Bild für das Materielle überhaupt. Es handelt sich also um einen verschämt genutzten materialistischen Gedanken, der aber als solcher nicht gelten soll. Das Bild führt an sich zu einer materialistischen Grundlegung des Wissens. Aber das soll man nicht denken. Deswegen geht von Hayek nicht vom Wissen aus und legt die Grenzen des Wissens dar, sondern er geht vom Unwissen aus und „hört auch was riechen“, um noch einmal auf Karl Valentin zurückzukommen.


Hat der Mensch seine Zivilisation geschaffen und kann er sie ändern?