Hat der Mensch seine Zivilisation geschaffen und kann er sie ändern?
Diese „Variante“, das logische Problem des Wissens um die Unwissenheit zu „lösen“, hindert von Hayek aber nicht daran, den Sozialforschern und den Philosophen vorzuwerfen, vom vollkommenen Wissen „des Menschen“ auszugehen. Ja, er grenzt sich von diesem angeblich üblichen Vorgehen ab. „Wie irreführend die Wirkung des üblichen Vorgehens ist, zeigt sich deutlich, wenn wir überlegen, was die Behauptung bedeutet, dass der Mensch seine Zivilisation geschaffen hat und dass er ihre Einrichtungen daher auch nach Gutdünken ändern kann.“ Lassen wir beiseite, dass das angeblich übliche Vorgehen eine fantasievolle Projektion ist, derer sich von Hayek offenbar gerne bedient. Es geht bei dieser Unterstellung um die Verbindung zweier Aussagen, die in keinem inneren Zusammenhang stehen. Es wird erstens behauptet, dass die Zivilisation von „dem Menschen“ geschaffen worden sei. „Der Mensch“ kann hier wohl kaum ein Individuum sein. Es handelt sich wahrscheinlich um die Gattung, also um die Menschheit. Die zweite Behauptung, die von Hayek mit „und … daher“ anschließt, bedeutet etwas völlig anderes. Sie besteht darin, dass „der Mensch“ die Einrichtungen der Zivilisation nach Gutdünken verändern kann. Wer diese Behauptung aufstellt, bleibt unbestimmt. (Handelt es sich um eine Fantasie des Herrn von Hayek?) Jedenfalls aber ist die Zivilisation nicht von „dem Menschen“ geschaffen worden, der die Zivilisation nach Gutdünken ändern könnte, wenn er es könnte. Im ersten Fall handelt es sich um die Geschichte der Menschheit, im anderen Falle um die gegenwärtig lebende Menschheit, deren Zivilisation auf den Schultern der Geschichte der Menschheit ruht. Von Hayek unterstellt wem auch immer alles Mögliche, um sich dann davon abzugrenzen, ohne auf die logischen Probleme seiner Argumentation weiter einzugehen.
Er fährt fort: „Diese Behauptung wäre nur dann berechtigt, wenn der Mensch die Zivilisation bewusst und in vollem Verständnis seines Tuns geschaffen hätte, oder wenn er zumindest genau wüsste, was sie aufrechterhält.“ Die Aussage ist wiederum so nicht haltbar: Wenn „der Mensch“, also die Menschheit in ihrer Geschichte, die Zivilisation in vollem Bewusstsein ihres Tuns geschaffen hätte, so wäre sie dennoch eine unabdingbare Voraussetzung des Lebens der jetzt lebenden Menschheit. Sie ließe sich also nicht „nach Gutdünken ändern“, sondern nur in der Bearbeitung weiterentwickeln. Wichtig und richtig ist aber die Feststellung von Hayeks, dass die Menschen die Zivilisation – um den Ausdruck aufzugreifen – nicht mit dem vollen Bewusstsein ihres Tuns „schaffen“. Denn das Bewusstsein richtet sich nach dem Tun der Menschen und nicht umgekehrt. Auch das ist eine Grundeinsicht des Materialismus: Nicht durch das Bewusstsein wird die Zivilisation geschaffen, sondern durch die materielle Tätigkeit der Menschen. Die kann man sich bewusst machen. Dann versteht man die eigene Zivilisation und kann sie bearbeiten und weiterentwickeln. Die von Hayek beschworene „Unbewusstheit“ ist also Ausdruck der Materialität des Tuns der Menschen, ihres Verhaltens zueinander und also auch ihrer Verhältnisse. Die Menschen bringen also sehr wohl ihre Zivilisation selbst hervor. Aber dies ist ein materieller geschichtlicher Prozess, der nicht vom Bewusstsein der Menschen abhängt oder durch ihn bedingt ist, sondern umgekehrt: Das Bewusstsein ist ein Resultat dieses geschichtlichen Prozesses.
Das räumt auch von Hayek ein, wenn er im nächsten Satz schreibt: „In einem gewissen Sinn ist es natürlich richtig, dass der Mensch seine Zivilisation geschaffen hat. Sie ist das Ergebnis seines Handelns oder vielmehr des Handelns einiger hundert Generationen.“ Hayek räumt also ein, dass erstens die Zivilisation von den Menschen „geschaffen“ worden ist, und dass zweitens „der Mensch“ sich in eine Vielzahl von Generationen von Menschen auflöst, die keineswegs angemessen als „der Mensch“ angesprochen werden kann. Nebenbei räumt von Hayek ein, dass die Zivilisation in einem geschichtlichen Prozess von den Menschen „geschaffen“ worden ist. Er fährt fort: „Das heißt aber nicht, dass die Zivilisation das Produkt eines menschlichen Planes ist, oder auch nur, dass der Mensch weiß, wovon ihr Funktionieren oder ihr Fortbestehen abhängt.“ Die Geschichte, in der die Zivilisation hervorgebracht worden ist, ist keine bewusste Geschichte. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht Produkt „des Menschen“ ist. Das sind zwei völlig verschiedene Aussagen. Von Hayek aber schreibt so, als wäre das ein- und dasselbe. Es kann aber etwas durchaus Produkt „des Menschen“ sein, ohne Produkt eines menschlichen Planes zu sein. Und so ist es in der Tat. Die Menschen, die im Rahmen einiger hundert Generationen die Zivilisation produziert haben, haben schon deshalb keinen Plan verfolgt, weil sie nicht „der Mensch“ waren, sondern eben viele Generationen von Menschen im Laufe der Jahrtausende.
Die Menschen haben auch nicht eine Zivilisation hervorgebracht, sondern im Laufe der Geschichte mehrere Zivilisationen. Na und? könnte man sagen. Was soll‘s? Nun: Aus dem Untergang einer Reihe von Zivilisationen kann man darauf schließen, welche Zivilisationen nicht „funktionierten“ oder fortbestanden. Und das schließt ein Wissen um das Fortbestehen unserer Zivilisation ein. (Im Übrigen hatte von Hayek noch vor Kurzem behauptet, dass die Zivilisation darauf beruhe, dass der Einzelne Wissen verwerten könne, das er selbst weder erworben noch zur Verfügung hat. Das ist doch schon mal was. Wer sich nicht ganz der Bedeutung dieser Formulierung verschließt, versteht durchaus, worauf das Fortbestehen der Zivilisation, in der wir leben, beruht, nämlich aus der Verwertung fremden Wissens und fremder Arbeit im Interesse von Einzelnen, was angeblich dann im Interesse aller sein soll (wie das bei Legitimation von Herrschaft üblich ist). Man weiß also: eine Sklavenhaltergesellschaft „funktioniert“ nicht, und man kann den Untergang des römischen Reiches daraufhin untersuchen, warum das so ist. Als Nächstes kann man die Frage stellen, ob das auch für die Sklavenhaltergesellschaft im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika galt, oder ob da andere Gründe vorlagen. Man kann untersuchen, woran der Feudalismus gescheitert ist, und daraus Konsequenzen für die Frage ziehen, ob eine Rückkehr zum Feudalismus „funktionieren“ würde. Solche Fragen zu stellen, ist sehr wohl möglich, wenn man nicht davon ausgeht, dass es nur eine, „die Zivilisation“, eines, „des Menschen“, gibt. Man würde dann auch feststellen, dass die Zivilisation nicht ein Produkt eines „menschlichen Planes“ ist, sondern umgekehrt: Der Zustand der Zivilisation, insofern sie die Lebensbedingungen der Menschen ausmacht, enthält zugleich die Bedingungen für die menschlichen Planungen, und insofern auch die Bedingungen zum Verständnis dieser Pläne. Bestimmte Abhängigkeiten für das Fortbestehen dieser Zivilisation lassen sich daraus durchaus ableiten.