Lässt sich die gegenwärtige Entwicklung als Fortschritt denken?
Lässt sich die gegenwärtige Entwicklung als Fortschritt denken?
Die Frage erscheint angesichts der Probleme, die wir in der Gegenwart haben, geradezu lächerlich. Die Lage ist offenbar so bedrückend, dass sich die Linke aus Resignation nicht einmal ernsthaft vornimmt, den Kern der Sache ins Visier zu nehmen. Dabei sind die objektiven Bedingungen für antikapitalistische Argumentationen so günstig wie selten zuvor. Aber die Linken sind schlecht auf diese Situation vorbereitet. Daher gelingt es den Rechten, die antikapitalistische Tendenz wesentlich besser aufzugreifen. Denn die Rechten brauchen keine realistische oder gar rationale Vorstellung, wie es besser gehen würde. Insofern haben sie es leichter.
Genau eine solche Vorstellung aber brauchen die Linken. Sie haben sich jedoch von der Geschichtsphilosophie verabschiedet, so dass es ihnen nicht gelingt, ja sie noch nicht einmal versuchen, ein kohärentes Bild der zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft zu zeichnen. So bestreiten sie zwar das viel beschworene Ende der Geschichte. Aber in der Tat, das heißt, was die praktische Politik betrifft, steht die Linke davor, die Gegenwart mit ein paar wenigen Veränderungen zu akzeptieren - und das obwohl sie zugleich mit Recht behauptet, dass die gegenwärtige Entwicklung zum Untergang der Menschheit führen kann. Das geht nicht zusammen.
Das Problem resultiert vor allem aus dem Verzicht, das Ganze zu denken. Man beschränkt sich auf das Denken in und von "Umwelten", die es nicht gibt, sondern die nur relativ zu "Systemen" erscheinen. Das Denken in "Umwelt" ist - bildlich gesprochen - ein Denken in Schornsteinen. Man möchte durch technische Mittel den Rauch weit genug aus dem eigenen Ökosystem entfernen, damit man selbst nichts mehr damit zu tun hat. Aber das funktioniert wegen des Zusammenhangs in der Natur zunehmend weniger. Die Wirkungen der "Umweltverschmutzung" sind so stark, dass sie sich nicht mehr auf fremde "Ökosysteme" umleiten lassen. Über den Zusammenhang der Natur wirken die "Umweltverschmutzer" auch auf sich selbst zurück. Früher nannte man (konkret Friedrich Engels) das "Dialektik der Natur". Man sprach von einem universellen materiellen Zusammenhang in der Natur, der zu denken erlaubte, dass die Wirkung der Menschen auf die Natur zu einer Rückwirkung der Natur auf die Menschen führen müsse. Heute erleben wir das seit einiger Zeit, haben aber auf die Denkform der "Dialektik der Natur" verzichtet, die es uns erlauben würde diesen Zusammenhang nicht nur "empirisch zu konstatieren", sondern auch zu begreifen.
Die "Dialektik der Natur" hatte den Sinn, die Menschen im Naturzusammenhang zu denken. Die Menschen sind - folgt man der "Dialektik der Natur" - von der Natur (und nicht von Gott, und auch nicht aus etwas nicht Bestimmbarem) hervorgebracht. Die Menschen können nur in der Natur leben; sie ist eine notwendige Bedingung ihres Lebens. Die Menschen müssen in der Natur ihre Lebensmittel produzieren, wodurch sie der Natur selbst als eine Naturkraft gegenübertreten müssen. Diese Naturkraft der Menschen wirkt auf die Menschen selbst - über den Zusammenhang in der Natur - zurück. Bleibt die menschliche Naturkraft unbeherrscht, wie das im Kapitalismus notwendig der Fall ist, und dehnt sich diese Kraft auf das Ganze der irdischen Natur aus, so bedroht sie die Lebensbedingungen der Menschen und letztlich der Menschheit. Es geht also nicht so sehr um den Schutz der Natur - oder gar der "Umwelt". Die bedürfen keines Schutzes. Es geht um die Erhaltung unserer natürlichen Lebensbedingungen der Menschen. Dafür müssen die Menschen in der Lage sein, ihre Naturkraft zu beherrschen, d.h. die Kräfte und Fähigkeiten zu beherrschen, die sie nutzen, um ihre Lebensmittel - im weitesten Sinne - zu produzieren. Diese Kräfte und Fähigkeiten nennen Karl Marx und Friedrich Engels Produktivkräfte. Es geht also nicht um den Schutz der Umwelt, sondern um die Beherrschung der Produktivkräfte.
Die Menschen sind einerseits Teil der Natur, andererseits ist die Produktion der Lebensmittel eine der Natur entgegengesetzte - von Menschen hervorgebrachte, und somit künstliche - Naturkraft, die sich aber - wenn die Menschen und die Menschheit überleben soll - in den Naturzusammenhang bewusst einordnen muss. Die Menschen sind also Teil der Natur und Produzent des Künstlichen, also des Gegenteils der Natur, das aber zugleich ein Teil der Natur bleibt.
Durch die Denkform der "Umwelt" wurde jedoch der natürliche Zusammenhang zwischen der äußeren Natur und der menschlichen Gesellschaft gedanklich zerrissen. Man (z. B. Heidegger, Sartre, die sogenannte kritische Theorie und andere) wollte keine Totalität mehr denken, und also auch keine Totalität der Natur. Man wollte keine Notwendigkeit mehr denken, und also auch keinen notwendigen Zusammenhang in der Natur. Die "Umwelt" stellt keinen notwendigen Zusammenhang dar. Im Gegenteil ist sie - da es sie in Wirklichkeit nicht gibt - notwendig zufällig. In der "Umwelt" geht also nichts notwendig vor sich, sondern alles zufällig. Zudem braucht es einen gedanklich externen "Beobachter", um dieses zufällige Verhältnis zu bestimmen. Der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin wähnt sich gerne außerhalb des Zusammenhangs, vergleichbar einem Techniker, der Schornsteine baut, um die "Umweltverschmutzung" anderen "Ökosystemen" zuzuschieben.
Es wäre also ratsam, die Natur als das Ganze zu denken, als Totalität, wenn man die gegenwärtige Entwicklung nicht nur empirisch konstatieren will, sondern wenn man sie begreifen will. Und begreifen muss man sie wollen, wenn man der gegenwärtigen Entwicklung etwas abgewinnen will. Denn nur unter dieser Voraussetzung begreift man zwei Seiten des gegenwärtigen Fortschritts, die zugleich erklären können, warum die Linken mit dem Fortschritt ihre Schwierigkeiten haben:
1. Die gegenwärtige Bedrohung der natürlichen Lebensbedingungen geht auf die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zurück. Daher haben Theoretiker und Theoretikerinnen der Linken einen Abschied vom "Produktivismus" gefordert. Ein solcher "Produktivismus" wird Marx und Engels unterstellt.
2. Der gegenwärtige Schritt der Produktivkraftentwicklung müsste, wenn man an diesem Kriterium des Fortschritts festhalten wollte, einen qualitativ anderen Charakter haben, als die bisherigen Schritte in der Entwicklung der Produktivkräfte.
Wie ist das Verhältnis von Marx und Engels zur Produktion zu verstehen? Behaupten Marx und Engels einen sogenannten "Produktivismus"? Nein, das tun sie nicht! Marx schreibt vielmehr, dass der Kapitalismus die Produktivkräfte um ihrer selbst willen weiterentwickelt. Der Kapitalismus ist nach Marx und Engels notwendig "produktivistisch", wenn man diesen Ausdruck gebrauchen will. Die Produktivkräfte sind zwar nach Marx die menschlichen Wesenskräfte; deren Entfaltung erfolgt aber im Kapitalismus nicht der Menschen wegen, sondern um der Kräfte selbst willen. Marx und Engels waren bekannt dafür, dass sie den Kapitalismus überwinden wollten. Denn sie wollten erreichen, dass die menschlichen Kräfte nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Menschen (und der Menschheit) willen entwickelt werden. Daher ging es ihnen nicht um die Entfaltung der Produktivkräfte als solche, sondern um die Beherrschung der Produktivkräfte. Sie wollten also die Produktivkraftentwicklung so weit treiben, dass die Menschen ihre Fähigkeiten und deren Anwendung gesellschaftlich beherrschen. Werden die Produktivkräfte um ihrer selbst willen entwickelt, so werden sie eben nicht beherrscht. Das Thema der Weiterentwicklung der Produktivkräfte schließt also in der marxistischen Theorie die Zielstellung ihrer gesellschaftlichen Beherrschung ein. Das wiederum schließt einen "Produktivismus" aus, also eine um ihrer selbst willen entwickelte Produktion aus. (Ist die Produktion Selbstzweck, so ist sie als solche unbeherrscht.)
Aber ist das nicht Schnee von gestern? Der real existierende Sozialismus hat doch gezeigt, dass das nicht funktioniert.