Ist die Beherrschung der Produktivkräfte möglich?
Ist die Beherrschung der Produktivkräfte möglich
Im Zusammenbruch des "realen Sozialismus" hat sich gezeigt: Äußerlich und auf politischem Wege lasst sich die Produktivkraftentwicklung nicht beherrschen. Aber in der Arbeit in den Unternehmen entwickelt sich eine neue Fähigkeit. Sie wird - aufgrund des kapitalistischen Charakters der Betriebe - nicht gerade positiv aufgenommen. Management-Konzepte wie Lean Production, Kai Zen, 5 Sigma, Agilität oder dergleichen nutzen die - geschichtlich relativ neue - Fähigkeit der Kolleginnen und Kollegen im Sinne des Kapitalismus aus, ihre Arbeit in der Arbeit selbst zu bearbeiten. Die Folge ist ein enormer Leistungsdruck, dem die Kolleginnen und Kollegen immer weniger gerecht werden können. Es folgen auch psychische Belastungen und die Ausbreitung von Burnout; unvertretbare und unkontrollierte Verlängerung der Arbeitszeiten, und das Nachlassen der kollegialen und gewerkschaftlichen Solidarität. Diese Management-Konzepte werden aus der Sicht der Kolleginnen und Kollegen als Formen der indirekten Steuerung aufgefasst und mit Recht wegen ihrer Unbewusstheit kritisiert. Hinter diesen negativen Erscheinungen verschwindet aber oft die Grundlage, auf der diese teilweise irrwitzigen Anforderungen der Unternehmen möglich sind, eben die Bearbeitung der eigenen Arbeit: Die Kolleginnen und Kollegen setzen sich gemeinsam in ein Verhältnis zu ihrer gemeinsamen Arbeit, bewerten und kritisieren sie, und versuchen sie, besser zu machen - im Dienste des Kapitals - d.h. profitabler zu arbeiten. (Wer sich über diese Formen informieren will, dem empfehle ich das Buch "Das unternehmerische Wir", das ich mit Martina Frenzel geschrieben habe. Hier kommt es mir nicht auf die Managementformen an, sondern auf ihre Grundlage: Die Bearbeitung der eigenen gemeinsamen Arbeit der Kolleginnen und Kollegen.)
Diese Fähigkeit, die eigene gemeinsame Arbeit zu bearbeiten, ist ein qualitativer Fortschritt in der Entwicklung der Lohnarbeit. Und dieser qualitative Fortschritt führt zu einer prinzipiell veränderten Haltung zur eigenen Arbeit. Bei dieser Veränderung gilt es ein wenig zu verweilen. Zunächst ist der einfachste Ausdruck davon, dass in der Gesellschaft allgemein ein "unternehmerisches Denken" gefordert wird. Dieses Denken ist deswegen notwendig, weil mehr und mehr Unternehmerfunktionen den in Teams - oder anderen Organisationseinheiten - organisierten Kolleginnen und Kollegen überlassen werden. Unternehmensleitungen treten zunehmend in den Hintergrund und organisieren "interne Märkte", auf denen sich die organisierten Einheiten bewähren müssen, indem sie einerseits gemeinsam unternehmerische Entscheidungen treffen und andererseits als einzelne diese Entscheidungen in Taten umsetzen. Unternehmerfunktionen befassen sich mit zwei im Kapitalismus auseinander fallenden Aspekten der Gesellschaftlichkeit der Arbeit, nämlich
1. der Tatsache, das für andere, für einen "Markt", für "zahlungskräftige Nachfrage" produziert wird und in diesem Sinne für die Gesellschaft.
2. der Tatsache, dass im Unternehmen mit einer Gesamtheit von Kolleginnen und Kollegen organisiert produziert wird, also auch im dem Sinne gesellschaftlich.
Für das kapitalistische Unternehmen ist bei der - für es äußerlichen - Verbindung der beiden Seiten entscheidend, dass aus der gesamten Bemühung möglichst viel Gewinn herausspringt. Für es fallen die beiden Seiten der Gesellschaftlichkeit auseinander und es kommt darauf an, sie so überein zu kriegen, dass möglichst viel Profit aus dieser Äußerlichkeit gezogen werden kann. Es muss Bedarf an dem Produkt bestehen oder erzeugt werden können, und es muss dieses Produkt so ökonomisch wie möglich produziert werden, aber so, dass dabei für die Kapitaleigner möglichst viel Gewinne herausspringen. Deswegen kommt es für die kapitalistischen Unternehmen auf die Zufälligkeit des Verhältnisses dieser beiden Seiten der Gesellschaftlichkeit an. Die Zufälligkeit dieses Verhältnisses erscheint als die Bedingung, unternehmerisch erfolgreich zu sein - im Unterschied zu anderen.
Für die Kolleginnen und Kollegen werden aber beide Momente der Gesellschaftlichkeit ihrer eigenen Arbeit mehr und mehr zu einem Arbeitsgegenstand, fallen also mehr und mehr zusammen. Sie fangen an, Produkte bedarfsgerecht entwickeln und ihre Arbeit so zu bearbeiten, dass sie möglichst ökonomisch und gewinnbringend zu erarbeiten sind. Für die Kolleginnen und Kollegen fallen also bei der Bearbeitung ihrer Arbeit der konkret-nützliche Aspekt und der abstrakt allgemeine Aspekt (die gesellschaftliche Notwendigkeit und Werthaltigkeit ihres Produkts) ihrer Arbeit mehr und mehr zusammen. Sie Bearbeiten in diesem Sinne den gesellschaftlichen Sinn ihrer eigenen Arbeit, den notwendigen Zusammenhang zwischen der Gesellschaftlichkeit als Produktion für andere und der Gesellschaftlichkeit im Sinne der gesellschaftlichen Produktion im Unternehmen. Indem sie diesen notwendigen Zusammenhang bearbeiten, bearbeiten sie zugleich den gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit in einem umfassenden Sinn.
Doch diese Bearbeitung der eigenen Arbeit wird durch die kapitalistische Produktionsweise auf die Profitabilität beschränkt. Sie wird nur insofern genutzt, als sie der Profitabilität dient. Zudem ist es eine Fähigkeit, die die Kolleginnen und Kollegen nur gemeinsam in der Arbeit entwickeln, die ihnen daher als ihre Fähigkeit nicht bewusst ist, sondern als eine Fähigkeit des kapitalistischen Unternehmens erscheint, das die Kolleginnen und Kollegen zusammenbringt. Weil die Zusammenarbeit nicht als ein Werk der Kolleginnen und Kollegen ihre individuell auftretende Arbeitskraft an das Unternehmen verkaufen, deswegen sind sich die Kolleginnen und Kollegen dieser neuen produktiven Fähigkeit meist nicht bewusst. Sie erscheint ihnen - und auch den Wissenschaften als Werk des Kapitals.
Für unsere Zwecke kommt es aber im Moment nicht darauf an, ob die Kolleginnen und Kollegen sich dieser neuen Fähigkeiten bewusst sind, sondern ob die Linken diese neue Entwicklung begreifen. Denn wenn sie sie begreifen würden, dann könnten sie sich folgende Frage stellen: Ist die Bearbeitung der eigenen Arbeit durch die Kolleginnen und Kollegen nicht ein Anknüpfungspunkt für ein Reformprogramm, das auf die Beherrschung der Entwicklung der Produktivkräfte zielt? (Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man die Behauptung von Marx teilt, dass die Produktivkräfte Kräfte der arbeitenden Individuen sind.) Weiter könnte man sich die Frage stellen: Wird diese Entwicklung nicht durch den Kapitalismus beschränkt auf die Realisierung möglichst hoher und überdies privat angeeigneter Profite? Ich würde sagen, dass man sich diese Fragen problemlos mit: Ja, genau so ist es! beantworten kann. Sollte das so beantwortet werden können, dann wären die Beherrschung der Produktivkräfte durch die Befreiung der Menschen, deren Kräfte es sind, möglich, aber auch nur so, nicht durch ihre Unterdrückung.
Ich will das hier nicht bewiesen haben, sondern nur die Überlegung anregen: Die Bearbeitung der eigenen gemeinsamen Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Charakters ist die Arbeit an nichts anderem als der Beherrschung der Produktivkräfte der indivdiuen, die sie allerdings nur gemeinsam mit den anderen Individuen erreichen können. Dass sich diese Bearbeitung auf die Frage der Profitabilität beschränkt, hängt womöglich mit der - zu überwindenden - kapitalistischen Produktionsweise zusammen.
Was könnte man tun, um der Befreiung der Produktivkräfte näher zu kommen?