Welches Wissen suchte Sokrates
Der nächste, also der zweite Satz offenbart, was von Hayek im Sinn hat, wenn er von Wissen spricht. „Die erste Voraussetzung für dieses Verständnis (unser Verständnis der Gesellschaft, Stephan Siemens) ist, dass wir uns der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von vielem, das ihm seine Ziele erreichen hilft, bewusst werden.“ Das Wissen, von dem von Hayek spricht, bezieht sich auf das, was dem Menschen hilft, seine Ziele zu erreichen. Hier aber – so stellt von Hayek fest – liegt eine unvermeidliche Unkenntnis des Menschen vor, derer es sich bewusst zu werden gilt. Wenn man diesen Anspruch an das Wissen mit dem Anfang bei Sokrates vergleicht, so fragt man sich: Hat Sokrates sich mit seinem Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ auf ein solches Wissen bezogen? Wohl kaum. Sokrates fragte nach dem Wesen der Dinge, im Speziellen der Wahrheit, der Schönheit, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit usw. Sind das die Mittel, die dem Menschen helfen, seine Ziele zu erreichen? Nein, das sind sie nicht. Von Hayek beschränkt sich auf ein instrumentelles Wissen. Damit meint von Hayek ein Wissen, das sich – zumindest zunächst – auf die Mittel beschränkt, durch die der Mensch seine Ziele zu erreichen sucht. Die Ziele selbst hat der Mensch woher auch immer. Mit dem Wissen haben diese Ziele zunächst nichts zu tun. Bei dieser Voraussetzung handelt es sich um die erste und im weiteren Text grundlegende Voraussetzung, dass „der Mensch“ in weitgehender Unkenntnis dessen lebt, was ihm seine Ziele zu erreichen hilft. Auch bei der Frage, um was für ein Wissen es sich handelt, verstellt sich von Hayek die Überlegungen, die Sokrates angestellt hat.
Von Hayek belässt es aber nicht bei der einseitigen Darstellung von Sokrates, sondern zielt allgemein auf das Wissen „des Menschen“, wobei er verschämt vom gesellschaftlichen Wissen Gebrauch macht, indem er es „soziales Leben“ nennt. Das wirft die Frage auf, in welchem Sinne er von „sozialem Leben“ spricht. Der dritte Satz lautet: „Die meisten Vorteile des sozialen Lebens, insbesondere in seiner fortgeschritteneren Form, die wir ‚Zivilisation‘ nennen, beruhen darauf, dass der Einzelne aus viel mehr Wissen Nutzen zieht, als ihm bewusst ist.“ Das „soziale Leben“ bietet Vorteile. Die meisten dieser Vorteile resultieren daraus, dass der Einzelne aus Wissen Nutzen zieht, das ihm nicht bewusst ist. Nicht nur das Wissen ist instrumentell beschränkt aufgefasst, auch das soziale Leben ist wesentlich dadurch charakterisiert, dass es Vorteile bietet. Wem bietet es Vorteile? Dem Einzelnen, sofern er aus Wissen Nutzen zieht. Dabei beschränkt sich der Einzelne nicht auf Wissen, das ihm bewusst ist, sondern nutzt auch ihm unbewusstes Wissen, das ihm sozial zugänglich ist. Es handelt sich also um das Wissen anderer, das dem „Einzelnen“ zugänglich ist. Es kommt darauf an, als Einzelner aus dem anderer, d.h. aus dem gesellschaftlichen Wissen Nutzen zu ziehen.