Die Grenzen des Wissens bei Herrn von Hayek

Aus die gegenwart begreifen
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Der angeblich ignorierte Mangel an Vollkommenheit des Wissens ist nach von Hayek ein Problem: „Doch mögen Erörterungen gesellschaftlicher Probleme unter der Annahme vollkommenen Wissens zwar als logische Vorübung gelegentlich nützlich sein, aber sie führen zu keiner realen Erklärung der Welt.“ Damit offenbart von Hayek, wen er mit „Philosophen und Sozialforscher“ meint: Er spricht von den Gleichgewichtstheorien der neoklassischen Ökonomen. Für diese Theorien trifft es vielleicht zu, dass den Menschen eine vollständige Kenntnis und eine (auf Eigennutz reduzierte) Rationalität unterstellt wird. Und in der Tat: Diese Theorien taugen nur sehr bedingt zur Erfassung der realen Welt. Es handelt sich bei von Hayek um einen äußerst reduzierten Begriff von „Philosophen und Sozialforschern“. Denn die meisten Philosophen, die im Übrigen sehr wohl zur Erklärung der Welt mehr taugen als von Hayek annimmt, gehen weder von vollkommenem Wissen aus, noch beschränken sie sich auf logische Vorübungen.

Von Hayek meint aber, dass die Probleme der realen Welt auf einer anderen Ebene liegen und deswegen durch das von ihm gemeinte Wissen nur eingeschränkt, bis gar nicht lösbar sind. Er schreibt: „Die Probleme dieser Welt sind von der ‚praktischen Schwierigkeit‘ beherrscht, dass unser Wissen tatsächlich von Vollkommenheit weit entfernt ist.“ Die unvermeidliche Unvollkommenheit, also die qualitative Differenz, hat sich in eine weite Entfernung verwandelt, also in eine quantitative Differenz. Es gibt also erste Differenzierungen in dem Begriff des Wissens, die beiläufig eingeführt werden. Diese Differenzen betreffen den Unterschied zwischen den Natur- und den Gesellschaftswissenschaften, wie der nächste Satz zeigt: „Dass die Vertreter der Naturwissenschaften die Tendenz haben, das zu betonen, was wir tatsächlich wissen, ist vielleicht nur natürlich; doch im sozialen Gebiet, in dem das, was wir nicht wissen, oft viel wichtiger ist, kann diese Tendenz sehr irreführend sein.“ Wir haben also Wissen, und das darf man in den Naturwissenschaften auch betonen. Das wird als „natürlich“ - gemeint ist wohl selbstverständlich - gelten gelassen. Da kann man es also nur quantitativ übertreiben. Aber wenn man das Wissen in den Sozialwissenschaften übertreibt, dann ist das möglicherweise qualitativ von Übel. Und da würde ich als materialistischer Philosoph von Hayek zustimmen: Allerdings nicht, weil ich die prinzipielle Unvollkommenheit des menschlichen Wissens für entscheidend halte, sondern weil ich die qualitative und quantitative Differenz zwischen dem Wissen, das wir haben, und dem vollkommenen Wissen mitdenke. Denn das Wissen, die Idealität, wird zwar von der Materialität begrenzt; insofern gibt es eine qualitative Differenz. Aber die Idealität ist im Materialismus so etwas wie ein Spiegelbild der Materialität der Wirklichkeit – und also von der Materialität bestimmt. Insofern ist die Welt prinzipiell erkennbar, wenn auch qualitativ und quantitativ beschränkt erkannt. Überdies ist die Erkenntnis als Abbild der Welt notwendig verzerrt, aber auch diese Verzerrung ist materiell bestimmt – wie ja auch die Verzerrung des Spiegelbilds durch das Spiegelungsverhältnis bedingt und bestimmt ist. Davon, dass die materielle Welt erkannt ist, kann beim Materialisten wie mir keine Rede sein.

Diese Differenz, mit der sich Philosophen durchaus und seit langer Zeit beschäftigt haben, wirft von Hayek permanent durcheinander. Überdies ist naturwissenschaftliches Wissen oft technisch anwendbar, auch wenn wir kein vollkommenes Wissen haben. (Dass auf technisches Wissen reduzierte Erkenntnis prinzipiell nicht in der Lage ist, die reale Welt zu erkennen, muss ich hier nicht weiter ausführen. Das versteht sich von selbst.) In diesem Sinne verwirft von Hayek auch soziale Utopien: „Viele utopische Konstruktionen sind wertlos, weil sie den Theoretikern in der Annahme folgen, dass wir vollkommenes Wissen besitzen.“ Es wird nicht gesagt, von welchen Utopien oder Theoretikern die Rede ist. Nehmen wir einen Zeitgenossen von Hayeks wie Ernst Bloch, so trifft das für ihn beispielsweise nicht zu. Bloch geht vielmehr ausdrücklich von möglichen, d.h. beschränkt bedingten Veränderungen aus, von denen daher auch nur ein beschränktes Wissen existieren kann, und leitet daraus den Begriff der Utopie ab. Aber von Hayek muss Bloch nicht gekannt haben, da er auch sonst einige Philosophen „außer Acht“ lässt.

Wissen vom Unwissen?