Der arme Sokrates
Der erste Satz lautet: „Sokrates‘ Ausspruch, dass die Erkenntnis unserer Unwissenheit der Anfang der Weisheit ist, hat für unser Verständnis der Gesellschaft tiefe Bedeutung.“ Im weiteren Verlauf des Textes wird von Hayek den Leser darauf hinweisen, dass der Mensch im Verfolg seiner Zielsetzungen der Wechselwirkung zwischen seinem bewussten Streben nach Zielen und dem Wirken von Institutionen, Überlieferungen und Gewohnheiten ausgeliefert ist. Von Hayek empfiehlt, den Menschen als untergeordnet unter diese Wechselwirkung vorzustellen, weil die Menschen nicht alles – und das heißt für von Hayek die Totalität aller Einzelheiten in der Gegenwart und in der Zukunft – wissen können. Aber da versteht der vorurteilslose Leser etwas nicht. War Sokrates nicht gerade deswegen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, weil er angeblich die Selbstverständlichkeit der „Institutionen, Überlieferungen und Gewohnheiten“ im Gespräch mit den Menschen hinterfragt hatte? Von Hayek will sich auf Sokrates berufen. Aber entweder aus Mangel an Bildung oder aus Voreingenommenheit für seine Gedanken beruft er sich in der Tat – das heißt, in dem was er wirklich schreibt – auf diejenigen, die Sokrates zu Tode gebracht haben – offenbar in der Meinung, dass Sokrates eben nicht getan hat, was von Hayek uns empfiehlt. Man muss also zugeben, dass der erste Satz im Verhältnis zu dem, was von Hayek sagen will, ein theoretischer Fehler ist. Von Hayek identifiziert sich nicht mit Sokrates, sondern mit dessen „Mördern“. Und das geht dann auch weiter. Es bleibt nicht bei einem einmaligen Versehen. Denn Sokrates hat nicht gesagt: Nun gut - Ich weiß, dass ich nichts weiß. Das ist auch gut so. Dadurch kann ich mir die Menschen als den gegebenen Institutionen umso besser „angepasst“ denken, wie von Hayek uns das empfiehlt. Sokrates ist vielmehr zu den sogenannten Experten (Heerführer, Sophisten, Lehrmeister etc.) gegangen, um sie zu befragen, wie es denn nun ist. Dabei stellte sich heraus, dass Sokrates nicht auf das Wissen stieß, das ihn befriedigt hätte. Aber wir wissen aus der Aktion des Prozesses und von Platon, dass er mit diesem Unwissen nicht zufrieden war. Er hat vielmehr immer wieder gefragt und das Gespräch gesucht. Denn er war der Meinung, dass es ein Mangel – und nicht etwa ein Vorzug – ist, zu wissen, dass er nichts weiß. Denn es handelt sich dabei – auch das scheint von Hayek nicht aufgefallen zu sein – um einen Widerspruch. Es ist eben – wie auch von Hayek schreibt – „der Anfang der Weisheit“, und nicht etwa zugleich das Ende, aus dem man dann nur noch Konsequenzen zu ziehen bräuchte. Um mit von Hayek zu sprechen: Sokrates war „Intellektualist“ und war daher nach von Hayek einem gefährlichen Irrtum verfallen. Die Berufung auf Sokrates ist daher zumindest ein Fehlgriff. (Man kann sich schwerlich vorstellen, dass von Hayek tatsächlich vom Tod des Sokrates und dessen Umständen nichts gewusst hat.)