These 1

Aus die gegenwart begreifen
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These 1

Soll die gegenwärtige Entwicklung zur Befreiung der Individuen führen, muss sie begriffen werden. Das Begreifen der Gegenwart ist die Aufgabe der Linken.


Die Linke steht gegenwärtig vor einer prinzipiell anderen Aufgabe als die anderen politischen Kräfte. Für reaktionäre, konservative, liberale oder reformistische Kräfte reicht es aus, sich in den Funktionsmechanismen der sich unbewusst herausbildenden neuen Formen der Gesellschaft so ungefähr auszukennen. Sie müssen lediglich - in beschränktem Umfang - wissen, wie es wirkt, was sie tun, um politisch handlungsfähig zu sein. Denn diese politischen Kräfte konzentrieren sich auf eine Art „Krisenmanagement“. Für sie ist die Herausbildung des Neuen, das Sichtbarwerden einer neuen Gesellschaft, nur als Krise der alten Gesellschaft zu erfassen. Nichts zeigt die Notwendigkeit des Untergangs der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schlagender, als die Unlösbarkeit zahlreicher Menschheitsprobleme. Die kapitalistische Herrschaftsordnung ist eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit. Das „Krisenmanagement“ der herrschenden politischen Kräfte beschränkt sich jedoch darauf, die Krisenfolgen - mit mehr oder weniger - großem Getöse von einem Schauplatz zum nächsten zu schaufeln. Dieses Verhalten ist nur Ausdruck und Begleitmusik der Notwendigkeit - und der Herausbildung - einer prinzipiell neuen Gesellschaftsordnung.

Man könnte denken, dass der Kapitalismus schon seit langem in der Krise ist. Ein spezifischer Gegenwartsbezug scheint daher weder für die Krise des Kapitalismus zu bestehen, noch für die Notwendigkeit der Linken, diese Krise zu begreifen. In der Tat ist in der traditionellen marxistischen Theorie von einer "allgemeinen Krise des Kapitalismus" die Rede, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in wechselnden Problemstellungen darstellt. Man kann selbstverständlich auch die jetzige Krise als eine solche Darstellungsform der "allgemeinen Krise des Kapitalismus" auffassen - und sicher ist die jetzige Krise als eine bestimmte Entwicklungsform dieser allgemeinen Krise des Kapitalismus zu verstehen. Die hier vertretene These unterscheidet sich in zwei Hinsichten von einer solchen Auffassung.

Erstens ist das Besondere des gegenwärtigen Verhältnisses der Linken zur Krise, dass sie diese Krise nicht 
begreift, weil sie eine Krise der Linken einzubegreifen scheint. Diese Krise ist nicht nur eine Krise des 
Kapitalismus, sondern auch eine Krise der politischen Kräfte, die den Kapitalismus überwinden wollen.
Zweitens erlaubt dies den anderen politischen Kräften ein spezifisches Manöver, dass anderenfalls nicht 
möglich wäre: Es wird nämlich die Allgemeinheit der Krise als ein Legitimation einer bestimmten 
Herrschaftsweise angeführt. Weil die Krise ohnehin unbegriffen ist, ist es auch egal, welche politischen 
Kräfte die Herrschaft innehaben. Dann ist eine bürgerlich liberale parlamentarisch organisierte Diktatur 
der kapitalistischen ökonomischen Interessen doch relativ angenehm. Sie löst zwar nicht die Probleme, 
sondern verschärft sie; aber lösen kann man sie - so scheint es - ohnehin nicht, und dann geht es um 
pragmatisches Wursteln. Daher lohnt sich kein politischer Kampf, keine politische Kraftanstrengung. 
Ob da eine Merkel oder ein Schröder - von Gabriel gar nicht erst zu reden - regiert, das scheint 
gleichgültig. Die Unbegriffenheit und daher naheliegende Unlösbarkeit der Krise wird selbst zu einem 
Argument der Legitimation der Herrschaft derjenigen, die diese Krise wesentlich zu verantworten haben.

Das Argument der Vertreter des kapitalistischen Systems und deren politische Repräsentanten, dass sie die Krise nicht verursachen, weil sie die Produktionsbeziehungen nicht beherrschen, sticht jedoch nicht. Denn die Vertreter des kapitalistischen Systems vertreten die Kräfte, die von der Unbeherrschtheit der Produktionsbeziehungen im wahrsten Sinne des Wortes profitieren und weiter profitieren wollen. Zu den Existenzbedingungen des kapitrallistischen Systems gehört jedoch gerade diese Unbeherrschtheit. Die mit dem kapitalistischen System sich identifizierenden Kräfte widersetzen sich daher jedem Versuch, die Produktionsbeziehungen zu beherrschen, mit aller Entschiedenheit und zwar - wenn es ernst wird - in aller Regel mit – internationaler und nach innnen gerichteter Gewalt, wobei sie vonn ihren Gegnern zuglöeich gewaltfreiheit verlangen. Daher stehen die Vertreter des kapitalistischen Systems in einem grundsätzlich anderen Verhältnis zur Unbeherrschtheit der Produktionsbeziehungen als alle anderen und tragen die Verantwortung dafür, dass der Versuch der Beherrschung ernsthaft nicht unternommen wird. Sollte er doch unternommen werden, bekämpfen sie diese Bemühungen mit allen Mitteln.

Dagegen steht die Linke vor der Aufgabe, die Gegenwart zu begreifen. Der Linken kann es nicht allein darum gehen, Funktionsmechanismen zu nutzen, deren Grundlage und Wirkungsweise sie nicht wirklich versteht. Die Linke muss zu begreifen lernen, was sie tut. Anders formuliert: Sie muss in der Krise des alten Systems die Entstehungsbedingungen der neuen Gesellschaftsordnung finden, erfassen und praktisch befördern und durchsetzen.

Das kann durch empirische Studien nicht geleistet werden.

Erstens ist empirisch das Neue erst fassbar, wenn es sich durchgesetzt hat, wenn es zum „Fakt“ 
geworden ist. Empirische Studien haben deshalb notwendig den Charakter, sich auf Vergangenes 
zu orientieren. Sie kommen notwendig zu spät. (Extrapolierte Tendenzen sind selbst Gegenstand 
entweder des Ausnutzens solcher Tendenzen, oder ihrer Veränderung.) 
Zweitens werden in empirischen Studien werden zweitens die Menschen und ihr Verhalten zum 
Objekt von wissenschaftlichen Betrachtungen gemacht. Im Regelfall findet eine Kritik dieses 
„Zum Objekt Machen“ nicht mehr statt. Die subjektive Seite, das eigentliche Handeln der Menschen, 
erscheint in der Form des Denkens und Kategorisierens der empirischen Forscherinnen und Forscher, so dass das Entstehen des Neuen als ein bloß objektiver Prozess erscheint, in dem „sich“ verändert, wie die Menschen sich verhalten. (Es ergibt sich aus diesem Gesichtspunkt strukturell eine Vergleichbarkeit dieser von Marx und Engels so genannten „abstrakten Empirie“ und einer Position, nach der die Menschen Objekt politischer und wirtschaftlicher „Führung“ seien, die aber nicht etwa zur bewussten Aktivität der Menschen beitragen und führen soll, sondern die Menschen in der – angeblich notwendigen – Objektstellung belässt oder sie lähmt.) Überdies werden drittens empirische Studien mit den hergebrachten Gedankenformen erarbeitet. Den Formen einer neuen Gesellschaft entsprechen aber auch neue Gedankenformen, in denen sie allein adäquat erfasst werden können. Empirische Studien enthalten keine Kritik der Formen, in denen bei der Erstellung der Studien gedacht wird. Die Kritik des eigenen Denkens ist jedoch eine entscheidende Bedingung dafür, die Entstehung der neuen Gesellschaft in der Krise der alten zu erkennen und zu erfassen. (Wer in einer Veränderung begriffen ist, verändert auch sein Denken über diese Veränderung. Nur die Kritik des eigenen Denkens macht es möglich, von der bloßen Veränderung des Denkens zu einer bewussten Tat des Sich-Veränderns überzugehen.)