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Wenn es aber empirisch nicht möglich ist, die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung zu erfassen, wieso soll es möglich sein, sie theoretisch zu denken? Weil die Menschen die neue Gesellschaftsordnung schon jetzt – wenn auch ihnen selbst unbewusst – produzieren. Die neue Gesellschaftsordnung ist nicht einfach da; sie wird von den Menschen praktisch (und das heißt subjektiv, wenn auch nicht bewusst) hervorgebracht, produziert. Den Formen, in denen die Menschen diese neue Gesellschaftsordnung praktisch unbewusst hervorbringen, entsprechen neue unbewusste Denkformen. Das philosophische theoretische Denken geht darauf, diese Denkformen bewusst zu machen. Eine Kritik der Denkformen, die auf das Bewusstmachen unbewusster Denkformen abzielt, eröffnet zugleich den Zugang zu den Formen der gesellschaftlichen Praxis, deren Abbild die Denkformen sind, und ihren Resultaten - und damit mittelbar zu den unbewusst produzierten Formen der neuen gesellschaftlichen Praxis, deren Resultat die gesellschaftliche Entwicklung ist. Um das Entstehen der Zukunft in der Gegenwart zu erfassen, bedarf es daher eines theoretischen Denkens, das in der Kritik an den bestehenden Denkformen das neue Entwicklungsprinzip der Gesellschaft freilegt, versteht und formuliert. Das kann nur in Gedanken geschehen. Denn das neue Entwicklungsprinzip ist zwar ein materielles, aber es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern theoretisch einsehbar, wenn man so will, intelligibel. |
Wenn es aber empirisch nicht möglich ist, die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung zu erfassen, wieso soll es möglich sein, sie theoretisch zu denken? Weil die Menschen die neue Gesellschaftsordnung schon jetzt – wenn auch ihnen selbst unbewusst – produzieren. Die neue Gesellschaftsordnung ist nicht einfach da; sie wird von den Menschen praktisch (und das heißt subjektiv, wenn auch nicht bewusst) hervorgebracht, produziert. Den Formen, in denen die Menschen diese neue Gesellschaftsordnung praktisch unbewusst hervorbringen, entsprechen neue unbewusste Denkformen. Das philosophische theoretische Denken geht darauf, diese Denkformen bewusst zu machen. Eine Kritik der Denkformen, die auf das Bewusstmachen unbewusster Denkformen abzielt, eröffnet zugleich den Zugang zu den Formen der gesellschaftlichen Praxis, deren Abbild die Denkformen sind, und ihren Resultaten - und damit mittelbar zu den unbewusst produzierten Formen der neuen gesellschaftlichen Praxis, deren Resultat die gesellschaftliche Entwicklung ist. Um das Entstehen der Zukunft in der Gegenwart zu erfassen, bedarf es daher eines theoretischen Denkens, das in der Kritik an den bestehenden Denkformen das neue Entwicklungsprinzip der Gesellschaft freilegt, versteht und formuliert. Das kann nur in Gedanken geschehen. Denn das neue Entwicklungsprinzip ist zwar ein materielles, aber es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern theoretisch einsehbar, wenn man so will, intelligibel. |
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+ | Diese Einsicht hervorzubringen ist die Aufgabe der Linken, weil die bürgerlichen Kräfte in diesem neuen Entwicklungsprinzip nur ihren eigenen Untergang sehen, den sie nicht verstehen können. Es ist nicht zu erwarten, dass Vertreter politischer Kräfte ein vernünftiges Prinzip am Werk sehen und erkennen können, wo es sich um den Untergang der politischen Kraft handelt, die sie vertreten. Die Entwicklung begreifen heißt aber nichts anderes, als in ihr ein vernünftiges Prinzip am Werke erkennen, ein Prinzip also, das zu verstehen ist, dem ein Sinn abzugewinnen ist. Allen wichtigen Einsichten anderer politischer Kräfte und deren Theoretiker zum Trotz: Allein von der Linken ist ein theoretischer Begriff der Gegenwart zu erwarten. Denn linke Politik erfordert einen Begriff der Gegenwart, um handlungsfähig zu sein. Das brauchen die anderen politischen Kräfte nicht. |
Version vom 5. Mai 2016, 18:37 Uhr
These 1
Soll die gegenwärtige Entwicklung zur Befreiung der Individuen führen, muss sie begriffen werden. Das Begreifen der Gegenwart ist die Aufgabe der Linken.
Die Linke steht gegenwärtig vor einer prinzipiell anderen Aufgabe als die anderen politischen Kräfte. Für reaktionäre, konservative, liberale oder reformistische Kräfte reicht es aus, sich in den Funktionsmechanismen der sich unbewusst herausbildenden neuen Formen der Gesellschaft so ungefähr auszukennen. Sie müssen lediglich - in beschränktem Umfang - wissen, wie es wirkt, was sie tun, um politisch handlungsfähig zu sein. Denn diese politischen Kräfte konzentrieren sich auf eine Art „Krisenmanagement“. Für sie ist die Herausbildung des Neuen, das Sichtbarwerden einer neuen Gesellschaft, nur als Krise der alten Gesellschaft zu erfassen. Nichts zeigt die Notwendigkeit des Untergangs der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schlagender, als die Unlösbarkeit zahlreicher Menschheitsprobleme. Die kapitalistische Herrschaftsordnung ist eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit. Das „Krisenmanagement“ der herrschenden politischen Kräfte beschränkt sich jedoch darauf, die Krisenfolgen - mit mehr oder weniger - großem Getöse von einem Schauplatz zum nächsten zu schaufeln. Dieses Verhalten ist nur Ausdruck und Begleitmusik der Notwendigkeit - und der Herausbildung - einer prinzipiell neuen Gesellschaftsordnung.
Man könnte denken, dass der Kapitalismus schon seit langem in der Krise ist. Ein spezifischer Gegenwartsbezug scheint daher weder für die Krise des Kapitalismus zu bestehen, noch für die Notwendigkeit der Linken, diese Krise zu begreifen. In der Tat ist in der traditionellen marxistischen Theorie von einer "allgemeinen Krise des Kapitalismus" die Rede, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in wechselnden Problemstellungen darstellt. Man kann selbstverständlich auch die jetzige Krise als eine solche Darstellungsform der "allgemeinen Krise des Kapitalismus" auffassen - und sicher ist die jetzige Krise als eine bestimmte Entwicklungsform dieser allgemeinen Krise des Kapitalismus zu verstehen. Die hier vertretene These unterscheidet sich in zwei Hinsichten von einer solchen Auffassung.
Erstens ist das Besondere des gegenwärtigen Verhältnisses der Linken zur Krise, dass sie diese Krise nicht begreift, weil sie eine Krise der Linken einzubegreifen scheint. Diese Krise ist nicht nur eine Krise des Kapitalismus, sondern auch eine Krise der politischen Kräfte, die den Kapitalismus überwinden wollen.
Zweitens erlaubt dies den anderen politischen Kräften ein spezifisches Manöver, dass anderenfalls nicht möglich wäre: Es wird nämlich die Allgemeinheit der Krise als ein Legitimation einer bestimmten Herrschaftsweise angeführt. Weil die Krise ohnehin unbegriffen ist, ist es auch egal, welche politischen Kräfte die Herrschaft innehaben. Dann ist eine bürgerlich liberale parlamentarisch organisierte Diktatur der kapitalistischen ökonomischen Interessen doch relativ angenehm. Sie löst zwar nicht die Probleme, sondern verschärft sie; aber lösen kann man sie - so scheint es - ohnehin nicht, und dann geht es um pragmatisches Wursteln. Daher lohnt sich kein politischer Kampf, keine politische Kraftanstrengung. Ob da eine Merkel oder ein Schröder - von Gabriel gar nicht erst zu reden - regiert, das scheint gleichgültig. Die Unbegriffenheit und daher naheliegende Unlösbarkeit der Krise wird selbst zu einem Argument der Legitimation der Herrschaft derjenigen, die diese Krise wesentlich zu verantworten haben.
Das Argument der Vertreter des kapitalistischen Systems und deren politische Repräsentanten, dass sie die Krise nicht verursachen, weil sie die Produktionsbeziehungen nicht beherrschen, sticht jedoch nicht. Denn die Vertreter des kapitalistischen Systems repräsentieren Interessengruppen, die von der Unbeherrschtheit der Produktionsbeziehungen im wahrsten Sinne des Wortes profitieren und weiter profitieren wollen. Denn zu den Existenzbedingungen des kapitalistischen Systems gehört gerade diese Unbeherrschtheit der Produktionsverhältnisse und damit der gesellschaftlichen Beziehungen überhaupt. Die mit dem kapitalistischen System sich identifizierenden Kräfte widersetzen sich daher jedem Versuch, die Produktionsverhältnisse und die gesellschftlichen Beziehungen überhaupt zu beherrschen, mit aller Entschiedenheit und zwar - wenn es ernst wird - in aller Regel mit – internationaler und nach innnen gerichteter Gewalt, wobei sie von ihren Gegnern zugleich Gewaltfreiheit verlangen. Die Vertreter des kapitalistischen Systems stehen also in einem grundsätzlich anderen Verhältnis zur Unbeherrschtheit der Produktionsbeziehungen als alle anderen, und tragen so die Verantwortung dafür, dass der Versuch der Beherrschung ernsthaft nicht unternommen wird. Sollte er doch unternommen werden, bekämpfen sie diese Bemühungen mit allen Mitteln.
Umgekehrt steht die Linke vor der Aufgabe, die Gegenwart zu begreifen. Der Linken kann es nicht allein darum gehen, Funktionsmechanismen zu nutzen, deren Grundlage und Wirkungsweise sie nicht wirklich versteht. Die Linke muss die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung zu begreifen lernen, um mehr und mehr zu wissen, was sie tut. Anders formuliert: Sie muss in der Krise des alten Systems die Entstehungsbedingungen der neuen Gesellschaftsordnung auffinden, erfassen und praktisch befördern und sie als bewusste Aktion der Menschen selbst durchsetzen.
Das kann durch empirische Studien nicht geleistet werden.
Erstens ist empirisch das Neue erst fassbar, wenn es sich durchgesetzt hat, wenn es zum „Fakt“ geworden ist. Empirische Studien haben deshalb notwendig den Charakter, sich auf Vergangenes zu orientieren. Sie kommen notwendig zu spät. (Extrapolierte Tendenzen sind selbst Gegenstand entweder des Ausnutzens solcher Tendenzen, oder ihrer Veränderung.) Sie laden zur hinterher laufenden Handwerkelei geradezu ein.
Zweitens werden in empirischen Studien die Menschen und ihr Verhalten zum Objekt von wissenschaftlichen Betrachtungen gemacht. Eine Kritik dieser Art und Weise, Menschen „Zum Objekt zu machen“ findet in der Regel nicht statt. Die subjektive Seite, das eigentliche Handeln der Menschen, erscheint im Rahmen der empirischen Studien ausschließlich in der Form des Denkens und Kategorisierens der empirischen Forscherinnen und Forscher. Daher erscheint das Entstehen des Neuen als ein bloß objektiver Prozess, gewissermaßen als "Trend", in dem „sich“ verändert, wie die Menschen sich verhalten. (Es ergibt sich aus diesem Gesichtspunkt strukturell eine Vergleichbarkeit dieser von Marx und Engels so genannten „abstrakten Empirie“ und einer Position, nach der die Menschen Objekt politischer und wirtschaftlicher „Führung“ seien, die aber nicht etwa zur bewussten Aktivität der Menschen beitragen und führen soll, sondern die Menschen in der – angeblich notwendigen – Objektstellung belässt - oder anders ausgedrückt: sie lähmt.)
Drittens werden empirische Studien in und mit den hergebrachten Gedankenformen erarbeitet. Den Formen einer neuen Gesellschaft entsprechen aber auch neue Gedankenformen, in denen sie deswegen auch adäquat erfasst werden können. Empirische Studien enthalten meistens keine Kritik der Formen, in denen bei der Erstellung der Studien gedacht wird. Die Kritik des eigenen Denkens ist jedoch eine entscheidende Bedingung dafür, die Entstehung der neuen Gesellschaft in der Krise der alten erkennen und erfassen zu können. (Wer in einer Veränderung begriffen ist, verändert auch sein Denken über diese Veränderung. Nur die Kritik des eigenen Denkens macht es möglich, von der bloßen Veränderung des Denkens zur bewussten Tat des Sich-Veränderns überzugehen.)
Wenn es aber empirisch nicht möglich ist, die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung zu erfassen, wieso soll es möglich sein, sie theoretisch zu denken? Weil die Menschen die neue Gesellschaftsordnung schon jetzt – wenn auch ihnen selbst unbewusst – produzieren. Die neue Gesellschaftsordnung ist nicht einfach da; sie wird von den Menschen praktisch (und das heißt subjektiv, wenn auch nicht bewusst) hervorgebracht, produziert. Den Formen, in denen die Menschen diese neue Gesellschaftsordnung praktisch unbewusst hervorbringen, entsprechen neue unbewusste Denkformen. Das philosophische theoretische Denken geht darauf, diese Denkformen bewusst zu machen. Eine Kritik der Denkformen, die auf das Bewusstmachen unbewusster Denkformen abzielt, eröffnet zugleich den Zugang zu den Formen der gesellschaftlichen Praxis, deren Abbild die Denkformen sind, und ihren Resultaten - und damit mittelbar zu den unbewusst produzierten Formen der neuen gesellschaftlichen Praxis, deren Resultat die gesellschaftliche Entwicklung ist. Um das Entstehen der Zukunft in der Gegenwart zu erfassen, bedarf es daher eines theoretischen Denkens, das in der Kritik an den bestehenden Denkformen das neue Entwicklungsprinzip der Gesellschaft freilegt, versteht und formuliert. Das kann nur in Gedanken geschehen. Denn das neue Entwicklungsprinzip ist zwar ein materielles, aber es ist nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern theoretisch einsehbar, wenn man so will, intelligibel.
Diese Einsicht hervorzubringen ist die Aufgabe der Linken, weil die bürgerlichen Kräfte in diesem neuen Entwicklungsprinzip nur ihren eigenen Untergang sehen, den sie nicht verstehen können. Es ist nicht zu erwarten, dass Vertreter politischer Kräfte ein vernünftiges Prinzip am Werk sehen und erkennen können, wo es sich um den Untergang der politischen Kraft handelt, die sie vertreten. Die Entwicklung begreifen heißt aber nichts anderes, als in ihr ein vernünftiges Prinzip am Werke erkennen, ein Prinzip also, das zu verstehen ist, dem ein Sinn abzugewinnen ist. Allen wichtigen Einsichten anderer politischer Kräfte und deren Theoretiker zum Trotz: Allein von der Linken ist ein theoretischer Begriff der Gegenwart zu erwarten. Denn linke Politik erfordert einen Begriff der Gegenwart, um handlungsfähig zu sein. Das brauchen die anderen politischen Kräfte nicht.