Die Entwicklung der Produktivkräfte als Motor der Geschichte und die Gegennwart
Wenn man auf marxistischem Wege nach einem solchen Inhalt sucht, dann bezieht man sich in der Regel auf die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit in der Annahme, dass diese verbunden mit den Produktionsverhältnissen den geschichtlichen Inhalt dessen bestimmt, was den historischen Charakter der Gegenwart ausmacht. So hat zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise den Inhalt, die gesellschaftliche Produktion – wenn auch unter der Erscheinungsform der Privatproduktion – voranzutreiben. Der gesellschaftliche Charakter der Produktion in der kapitalistischen Produktionsweise hat zwei Seiten: Einerseits produzieren die Produzenten Waren und Dienstleistungen für andere, also für einen angenommenen gesellschaftlichen Bedarf, der auf dem Markt als zahlungskräftige Nachfrage auftritt. Andererseits werden die Waren in zunehmend größer werdenden Unternehmen durch eine Gesamtheit von Beschäftigten, also gesellschaftlich produziert – wenn auch nach Maßgabe der Profitabilität. Der Fortschritt innerhalb der Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise wird also in der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion in Erscheinung treten. Die ökonomische Erscheinungsform dieser zunehmenden Vergesellschaftung sind auch benannt worden: Vom Monopolkapital zu den politisch-ökonomischen Komplexen, vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus über die internationalen Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft bis hin zu den internationalen Finanzmärkten. Diese objektiven Analysen sind für mich überzeugend, wirken aber seit Mitte der 70er Jahre nicht mehr überzeugend in die Breite der Gesellschaft (was sie vorher in einem gewissen Umfang taten). Die Frage ist: Gibt es dafür Gründe jenseits der bloßen Theorie und jenseits der bloßen politischen Auseinandersetzung.
Ein marxistisch orientierter Mensch wird in der Regel keine Bedenken haben, zu bemerken: An der bloßen Theorie kann es nicht gelegen haben. Denn diese objektiven Tendenzen wirken fort. Die in ihnen liegenden Widersprüche verschärfen sich erkennbar, wie die vielfältigen Krisen und vor allem die Finanzkrisen zeigen. Dem wird man kaum widersprechen können. Deswegen wird in der Regel der zweite Punkt angeführt. Der Neoliberalismus hat den politischen Kampf um die Entwicklung der Gesellschaft gewonnen. Er hat dann nach und nach die Bedingungen politisch durchgesetzt, die dazu führten, dass die Gesellschaft heute in einer Sackgasse gelandet ist. Folgt man dieser Linie, so werden die Deregulierung der Finanzmärkte, die Deregulierung der Lohnarbeitsverhältnisse, die grundlegende Umgestaltung der Bildungseinrichtungen, die Beseitigung oder Beschneidung sozialstaatlicher Maßnahmen usw. angeführt – und zwar zurecht. Dem kann ich nicht widersprechen. Und doch frage ich mich: Gibt es nicht auch eine politisch-ökonomische Grundlage des Neoliberalismus? Ist die Durchsetzung des Neoliberalismus nicht an Voraussetzungen politisch-ökonomischer Art gebunden, die über die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion im oben genannten Sinne hinausgehen?
Gesetzt den Fall, das wäre so: Dann wäre es angemessen, die marxistischen Überlegungen nach zwei Richtungen hin weiterzuentwickeln: 1. Wenn es wesentliche politisch-ökonomische Voraussetzungen des Neoliberalismus gibt, um welche handelt es sich dann? 2. Was ist die geschichtliche Tendenz, die sich in dieser Voraussetzung geltend macht und die über die kapitalistische Produktionsweise hinausweist?
Auf welche politisch-ökonomische Veränderung kann sich der Neoliberalismus stützen? Wenn man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte – im Ansatz seit den 70er, spätestens aber seit den 90er Jahren – gedanklich rekapituliert, so fallen einem viele Veränderungen auf. Was die Produktivkraftentwicklung betrifft, an die ich mich als Marxist halten will, springen zwei Veränderungen ins Auge. Einerseits die enorme technische Entwicklung, die mit den elektronischen Technologien verbunden sind. Andererseits haben sich die Lohnarbeitsverhältnisse wesentlich verändert. Da unter geschichtsphilosophischer Hinsicht die technische Entwicklung nur der Ausdruck der Fähigkeiten der menschlichen Individuen in ihrer Zusammenarbeit [1] ist , halte ich mich an die Veränderung der Lohnarbeitsverhältnisse, die ja auch den Kern der Ausbeutung in Gesellschaften mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen bilden. Da dominieren nach meinem Eindruck zwei Formen: Einerseits die Prekarität vieler Beschäftigungsverhältnisse; auf der anderen Seite wurden und werden die Formen der Arbeitsorganisation der Beschäftigten zunächst in den großen, heute aber mehr oder weniger in allen Unternehmen verändert, um die Ausbeutung zu verschärfen. Mein Vorschlag wäre, sich an die Beschäftigten in den Unternehmen zu halten, um dort den Kern der Sache zu fassen zu kriegen und dann von da aus zu überlegen, ob damit auch die Tendenz zur Prekarität zu erfassen ist.
Dazu möchte ich kurz zwei Thesen zur Diskussion stellen, die einer marxistischen Kritik im engeren Sinne bedürfen. Denn ich glaube, dass es ohne die darin zum Ausdruck kommenden Überlegungen zu keiner durchsetzungsfähigen Antwort auf die Rechtsentwicklung kommen wird, selbst wenn die Thesen als solche unzureichend sind.
- ↑ Vgl. dazu Karl Marx, Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Band 3, S. 67.